Mut zur Erziehung

Es gibt bei den Yeziden kaum einen gesellschaftlichen Bereich, der so von Bildern, Idealen und emotionalen Bewertungen umstellt und verstellt ist, wie die Familie und das Familienleben. In der Erwartung, dass Mütter und Väter (und die es werden wollen) diese Zeilen lesen, widme ich mich diesem Thema. Ich will weder provozieren noch will ich lehren.

Unsere FamiliensoziologenInnen und ErziehungswissenschaftlerInnen mögen mir verzeihen. Ich habe mich in ihre Höhle gewagt. Sie werden vielleicht an einigen Stellen kopfschüttelnd sich vom Bildschirm wegdrehen. Ja sogar vielleicht mich beschimpfen. Andere wiederum werden mir Recht zusprechen. Nach langer Überlegung und intensiver Unterhaltung mit meiner geliebten Ehefrau entschloss ich mich über das Thema zu schreiben.

Nahezu alle Eltern, seien sie Yeziden, Christen oder Muslime, werden das Kindererziehen als eine verantwortungsvolle gesellschaftliche Aufgabe betrachten. Dennoch gelingt es nicht jedem, diese Aufgabe zu meistern. Im Hinblick auf die demographische Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland sagt Bundespräsident Horst Köhler: „Wir brauchen mehr Kinder, weil wir als Gesellschaft sonst keine Zukunft haben.“ Die Frage, die sich hier für alle aufdrängt: brauchen wir in bezug auf unsere Gesellschaft mehr Kinder? Kann allein der Akt, mehr Kinder auf die Welt zu setzen, auch die yezidische Gesellschaft langfristig lebensfähiger machen?

Meiner Meinung nach besteht die langfristige Lebenserwartung einer Gesellschaft darin, wie einzelne Individuen von ihren Eltern erzogen werden. Denn nicht umsonst haben schon unsere Vorfahren gesagt: „Mal mektebeya.“ Die Erziehung der Eltern bestimmen den Bildungstand und das Verhalten der Kinder in der Sozialisation.

Die Erziehung der yezidischen Kinder wird überwiegend von den Müttern gesteuert. Die Frage soll hier erlaubt sein, ob es nicht an der Zeit ist, dass beide Elternteile verpflichtet sein sollten, die Erziehung ihrer Kinder in die Hand zu nehmen. Erziehung basiert in erster Linie auf Vertrauen. Nicht minder wichtiger als das Vertrauen ist das Thema Vorbildfunktion. Eltern müssen sich bewusst sein, dass sie Vorbildcharakter haben, dass sie die Kraft der Autorität haben müssen, Grenzen zu ziehen und Auseinandersetzungen zu führen. Immer wieder ist in den vergangenen Jahren von einer „Erziehungskatastrophe“ die Rede, manchmal auch von einem „Erziehungsschock“. Gerade genüsslich wird erklärt, durch die Emigration in die Diaspora hätten die yezidischen Eltern keinen Einfluss mehr auf die Erziehung ihrer Kinder.

Derartige Horrorszenarien halte ich für gefährlich und vor allen Dingen auch für ungerecht. Das Erziehungsproblem der Deutschen in den 60er und 70er Jahren erleben wir zeitversetzt heute bei unserer yezidischen Gesellschaft. In den 60er und 70er Jahren haben deutsche Kinder gelernt, nachzufragen und vor allem sich eine eigene Meinung zu bilden. Gerade bei vielen Jugendlichen, beispielweise aus patriarchalisch geprägten yezidischen Familien, sehen wir heute eben dieses Ringen, das in jenen Jahren in den deutschen Familien stattfand. Sollten wir als Eltern Angst davor haben, dass unsere Kinder sich ihre eigene Meinung bilden? Ich jedenfalls bin glücklich und stolz zugleich, dass mein Sohn ein selbstbewusster neunjähriger junger Mann ist.

Damit aber keine Missverständnisse auftreten, Kinder können sich nicht selbst erziehen. Eine Veränderung in bezug auf yezidische Erziehung ist meiner Meinung nach notwendig. Es gibt vermehrt Kinder, die sich selbst überlassen bleiben, keinerlei Orientierung haben und keine Klarheit erhalten. Die Zukunft dieser Kinder ist dann mit dem russischen Roulette zu vergleichen. Den Kindern fehlt es an Vorbildern. Gerade „bildungsferne“ Familien haben in dieser Hinsicht Probleme. Es reicht einfach nicht, wenn Eltern sagen: „Lies ein Buch“, selbst aber nie ein Buch zur Hand nehmen.

Die Erziehung ist eine Leistung, die die Eltern erbringen müssen. Die Aufgabe darf nicht an die Lehrer delegiert werden. Viele yezidische Eltern hoffen und erwarten, dass die Schule ihre Kinder erzieht. Und wehe, wenn es schief läuft. Ein weiteres Phänomen ist die Vermittlung bzw. Nichtvermittlung von religiösen Werten. Indem die yezidische Religion als Phänomen von gestern gesehen wird, gibt es eine Erosion religiöser Erziehung. Eltern erzählen die alten Geschichten nicht mehr, es gibt kein gemeinsames tradiertes Erbe, keine Erinnerungskultur. Religiöse Maßstäbe und Rituale, Gemeinschaftserfahrung an den hohen Festtagen, sie sind preisgegeben worden. Zudem hat sich das Verhältnis von Eltern und Kindern dahingehend verschlechtert, dass die Kinder nicht über ihre sexuellen Phantasien oder Bedürfnisse mit ihren Eltern sprechen, weil das Vertrauen fehlt.

Mir liegt selbstverständlich fern, einen Erziehungsleitfaden aufzustellen. Ich will lediglich einige Beobachtungen von mir hier niederschreiben. Wie letztendlich jeder einzelne seine Kinder erzieht, ist seine eigene Angelegenheit. Er oder sie soll aber auch in aller Hinsicht die Verantwortung übernehmen. D.h. im Klartext, dass auch im Falle eines Misserfolges, er/sie die Verantwortung übernehmen muss.

Mit der Geburt unseres Kindes, an einem Montagmorgen im November vor neun Jahren, tat sich für uns, und insbesondere für mich, eine ganz neue Welt auf. Die wesentliche von den emotionalen, intellektuellen und existentiellen Erfahrungen ist vor allem die: Egal, was noch kommen mag an Höhen und Tiefen, auf jeden Fall ist das so manche Entbehrung wert.

Und Worte wie „Verzicht“ und „Unsicherheit“ standen bei allem Glück eben doch im Raum. Es ging – und es ging doch nicht. Nicht nur aus zeitlichen Gründen. Wir denken immer: „Wir schlagen uns noch ganz tapfer“, teilen Hausarbeit (nicht immer), Erziehung, Alltagskram (wenn auch – gerechterweise - nicht paritätisch) und haben unsere Ansprüche an individuellen Freiraum und den Pflegestatus unserer irdischen Besitztümer heruntergefahren. Lesen ist für mein Sohn selbstverständlich. Von uns kennt er auch nichts anderes. Denn auch für uns ist das tägliche Lesen eine Selbstverständlichkeit. Im Übrigen, einen besseren Freund als meinen Sohn kann ich mir nicht vorstellen. Er ist mein wichtigster Partner und Freund. Zum Schluss möchte ich noch einmal besonders hervorheben, dass die Zukunft einer Gesellschaft über die Kinder geht.

Ich hoffe, dass einige ErziehungswissenschaftlerInnen sich ausführlicher mit diesem Thema beschäftigen und uns an ihrer Arbeit teilnehmen lassen.

Irfan Ortac

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