Was prägt einen Menschen?
Gegen Ende meiner
Schulzeit besuchte ich ziemlich häufig die Bibelstunden des
„Jugendbund für Entschiedenes Christentum“, das war sozusagen die
Kaderschmiede der evangelischen Fundamentalisten in der
Bundesrepublik. Zugegeben, der Grund war weniger mein Glaubenseifer
als die jüngere Tochter des Leiters. Irgendwann kam das Gespräch auf
den zukünftigen Weg nach dem Schulabschluß, und als ich bekannt gab,
dass ich Theologie studieren wollte, meinte der gute Mann: „Dann
bist Du für den Glauben verloren!“ Nun ja, so ganz Unrecht hatte er
wohl nicht, denn für seinen Glauben war ich wirklich schon
bald verloren.
Nach dem Wehrdienst
von damals 18 Monaten begann ich mein Studium in Mainz und ging nach
dem 1. Semester für wieder 18 Monate nach Israel, zuerst auf eine
Sprachschule in einem Kibbutz, wo ich täglich 4 Stunden Hebräisch büffelte
und die anderen 4 Stunden als landwirtschaftliche Hilfskraft in der
Bananenplantage beschäftigt war, anschließend für ein Studienjahr
an die Hebräische Universität in Jerusalem, wo ich vor allem jüdische
Geschichte lernte und ans Schwedische Theologische Institut, dessen
damaliger Leiter Hans Kosmala mich blutigen Neuling in sein Seminar
aufnahm, wo ansonsten neben einigen Doktoranden sich vor allem
Professoren tummelten quer durch alle Konfessionen und Religionen.
Hier beteiligte ich
mich erstmals an Demonstrationen, fand Freunde unter Journalisten, die
für die englisch-sprachige Tageszeitung arbeiteten und bis spät in
die Nacht die Ereignisse des Tages diskutierten, gerade auch die,
welche wegen der Militärzensur nicht veröffentlicht werden durften.
In diesen Debattierrunden durfte ich fragen, was mir einfiel und ich
habe dort vielleicht mehr gelernt als in der Uni. Und dann war da die
„Liga gegen den religiösen Zwang“, geleitet von dem Journalisten
Uri Avnery, der kurz darauf als Parlamentarier Minister und
Regierungschefs nervte und noch heute als 83-jähriger der große
immer noch zornige alte Mann der israelischen Opposition ist und
stetiger Mahner für Versöhnung und Frieden mit den Palästinensern.
Mit dem, was ich in
Israel gelernt hatte, kam ich gerade zur richtigen Zeit nach
Deutschland zurück, wo sich zusammenbraute, was heutige Studenten als
68-er Generation kritisieren und belächeln. Eine Karriere bei der
Kirche war für mich nicht mehr denkbar, alles schrie nach
Rrrrevolution. Die Institution Kirche war schnell „entlarvt“ als
„Überbau des Kapitalismus“ – hinweg damit. Andererseits
schienen Pfarrer für die Verbreitung revolutionärer Ideen sehr
geeignet zu sein, darum ließen wir uns vom großen Vorsitzenden Mao
Dse-Dong auf den langen „Marsch durch die Institutionen“ schicken.
Einer der Anführer der revolutionären „Celler Konferenz“ der
Theologiestudenten von 1968 ist heute immerhin Boss der evangelischen
Bischöfe.
Trotzdem hängte ich
1969 das Theologiestudium an den berühmten Haken und studierte weiter
Politologie und Erziehungswissenschaften, möglichst ab Herbst 1970 in
Berlin. Aber die Hochschulbürokratie, die ich gewöhnlich zu
ignorieren pflegte, ordnete eine halbjährige Zwangspause an: kein
Studium = kein Bafög = Jobsuche. Damit begann meine echte Karriere
als Eisenbahner. Denn zum Sommer 1971 wurde ich an der FU-Berlin zum
Weiterstudium zugelassen, für das Fach „Leibeserziehung“, sprich:
Ausbildung zum Sportlehrer. Jeder, der/die mich kennt, weiß, dass
diese Entscheidung zutiefst demokratisch gefällt wurde, nämlich:
„Ohne Ansehen der
Person“. Aber da stand ich schon mit roter Mütze überm vollbärtigen
Gesicht auf dem „Vorortbahnsteig“ des S-Bahnhofs
Berlin-Gesundbrunnen und fertigte „Blechbahn“-Züge ab, bis 1984,
dann wurde ich als Fahrdienstleiter in den Güterverkehr versetzt, bis
die wiedervereinigte Deutsche Bahn mich 1998 als 55-jährigen
loswerden wollte, sozial gut abgefedert von der DB, aber als
Langzeit-Arbeitsloser bis zur vorzeitigen Altersrente 2003.
Ein Leben im
Schnelldurchgang. Natürlich stecken in jedem der vorangegangenen Absätze
sehr viele Geschichten. Die kommen vielleicht bei anderen
Gelegenheiten zutage. Wie kommt solch ein Kerl aber zu den Yeziden?
Das hat zu tun mit Erziehung, nämlich mit meiner Erziehung durch
meine Eltern und mit der jüngeren Geschichte Deutschlands. Ihnen
wurde durch die politischen Verhältnisse in Deutschland während
ihrer Jugendzeit von außen bestimmt, was sie zu denken und auch, was
sie zu glauben hatten. 1945 war auch das zerstört, mehr oder weniger.
Mein Vater hatte sich mit den Gedanken der Weltbürger-Bewegung
angefreundet und förderte bei seinen Kindern alles was dahin führen
konnte, also das Erlernen fremder Sprachen und das Studium anderer
Kulturen. Dafür verzichtete er gern auf die Attribute des sogenannten
Wirtschaftswunders, aber wenn wir Kinder Bücher haben wollten oder an
einer interessanten Reise teilnehmen wollten, fand er immer die Mittel
dazu, wobei er unsere eigene Sparsamkeit voraussetzte.
Jeweils mit 15
unternahmen wir unsere ersten Fernreisen und die Eltern erlebten sie
mit durch unsere Berichte. Das erweiterte den Blickwinkel für alle.
Und die elterliche Wohnung in Diepholz war immer offen für unsere
Freunde und Bekannten. Da kamen dann auch junge Leute, die als
„Gastarbeiter“ im Städtchen malochten, oft mit Sorgen, manchmal
„nur“ mit Heimweh. Und Mutter hatte immer ein offenes Ohr, ein tröstendes
Wort und sorgte auch dafür, dass die jungen Leute ordentlich Deutsch
lernten, um sich selbst helfen zu können. So ähnlich ging das auch,
als Ende 2001 eine junge Yezidin anfragte, ob sie für ihre Familie
die leere Wohnung im Erdgeschoß unseres Hauses mieten könne.
Natürlich bekam sie
die Wohnung. Eigentlich hätten wir noch für eine echte Trennung der
beiden Wohneinheiten sorgen müssen, aber als wir die Mittel dafür
bereit hatten, war die Trennung nicht mehr nötig, weil wir uns
inzwischen so zusammengehörig fühlten, dass unser gemeinsames Leben
keine abgeschlossenen Türen benötigte. So ist es ein Jahr nach
Mutters Tod heute noch, wenn auch in einem anderen, kleineren Haus, wo
nun ich der Mieter bin.
Als wir 2001 zum
ersten Mal beisammen saßen und die neuen Mieter sagten, sie seien
nicht Moslems sondern Yeziden, sagte ich großspurig, dass mir diese
Religion nicht unbekannt sei, verwechselte aber Yeziden mit chaldäischen
Christen. Der Irrtum klärte sich bald auf, aber als ich auf meine
Bitten um Literatur zum Yezidentum immer wieder höflich auf später
vertröstet wurde, war ich dann doch etwas verunsichert. Schließlich
brachte mein Freund Cano ein Exemplar von Dengê Êzîdiyan mit und da
gab es dann die ersehnte Information und vor allem eine Homepage.
Da ich seit 1973 mit Günther
Spohr von der GfbV bekannt war, hatte ich natürlich ein gewisses
Hintergrundwissen über die Lage der Kurden im Irak, und seit 1983 war
ich durch einen anderen Bekannten aus Schweden auch ausführlich über
die revolutionäre Bewegung der Kurden in der Türkei informiert. Aber
das waren politische Kontakte, da wurde nicht über Religion geredet.
Als ich seit ca. Mitte 2003, zuerst als häufiger „Besucher“, die
Beiträge vorwiegend sehr junger YezidInnen im Forum von Dengê Êzîdiyan
las, war ich beeindruckt von der Ernsthaftigkeit bei erstaunlich
vielen dieser jungen Menschen, und als ich dann seit Frühjahr 2004
selbst Beiträge schrieb, entstanden bald einige weitere
Freundschaften, die ich nicht mehr missen möchte.
Nun bin ich am Projekt
www.yeziden-colloquium.de
beteiligt. Was erwarte ich davon?
1.
dass die jungen Leute, die dort aktiv werden, nicht die Fehler
wiederholen, die ich und meine damaligen Freunde vor knapp 40 Jahren
gemacht hatten: also die als notwendig angesehenen Reformen erst
einmal nicht als Rrrrevolution betrachten und sie vor allem nicht gegen
die Gemeinschaft der Yeziden vorantreiben, sondern mit und für die betrroffenen Menschen;
2.
dass die fortschrittlichen Ideen des derzeitigen Mir der
Yeziden mit allen sich daraus ergebenden Entwicklungen nicht nur den
Yeziden in der Diaspora selbst erläutert werden, sondern auch den
Menschen, in deren Mitte sie dort leben;
3.
dass eine yezidische Identität möglich wird und bleibt in der
rechtsstaatlich organisierten Gesellschaft, auch wenn manche den Wert
dieser Gesellschaftsstruktur bezweifeln mögen, aber man möge mir
auch glauben, dass ich aufgrund meiner Lebenserfahrung dies als das
relativ beste unter den sonstigen schlechteren Gesellschaftsmodellen
erkannt habe;
4.
dass im Vergleich mit den anderen monotheistischen Religionen
das Yezidentum wegen des Verzichts auf Missionierung die besten
Voraussetzungen besitzt, diesen historischen Spagat zu schaffen
zwischen den Anforderungen von repräsentativer Demokratie und
moderner Rechtsstaatlichkeit mit einer im Feudalismus angesiedelten
Religion. Aber zu diesem Punkt werde ich noch einen ausführlichen
Beitrag schreiben, wofür ich Anregungen von Lesern dieser Zeilen
gerne aufnehmen werde.
Karl G. Mund
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