Rosinenpicker Nr. 2, vom 19. Mai 2005

von Karl G. Mund*

Die Gedenktage zu Beginn des Monats haben natürlich auch in den Medien Spuren hinterlassen. Herausragend: Atom Egoyans Film „Ararat“. Und immer wieder die Talkshows und Diskussionsrunden, wo man Bezug nahm auf den Unterschied bzw. Nicht-Unterschied zwischen dem Schicksal der Armenier 1915 – 18 und der Juden 1933 – 45. Es gibt wirklich einen wesentlichen Unterschied: Die deutschen Mörder entwickelten das industriemäßige Morden, sie waren halt moderner als die türkischen. Aber die Absicht war vergleichbar, und das zählt letztlich.

Ein wichtiger Unterschied besteht aber: Anders als die Masse der Juden Osteuropas vor 1939 waren die Armenier politisch organisiert und hatten 1915 schon jahrzehntelang Erfahrung im politischen und auch militärischen Widerstand, was türkische Nationalisten heute wieder als Rechtfertigung für die Handlungsweise ihrer Großvätergeneration vorbringen. Das Problem dabei war, dass vor allem die Militärführung des zaristischen Russland sich damals diesen organisierten Widerstand für ihre Expansionsvorhaben nutzbar machen wollte. Jedoch in St. Petersburg wie in Istanbul bestand natürlich kein Interesse, die Armenier wie auch alle anderen Völker im russischen wie im osmanischen Reich als eine autonome Einheit zu betrachten. Da hat sich bis heute kaum etwas geändert, und die wichtigen Mächte des Westens schauten und schauen auch recht gelangweilt darüber hinweg.

Als dieser Tage Condoleeza Rice ihre Aufwartung beim alten Verbündeten Mustafa Barzani machte, hatte sie vermutlich etwas Ähnliches im Bus(c)h. Die „kurdische Keule“ ist ja so gut nutzbar gegen Baghdad wie gegen Teheran und natürlich auch zur Disziplinierung der Regierung der Türkei. Eine Zeitlang mag es sich ganz erträglich leben als Spielball der Großmächte, aber irgendwann wird denen das Spiel langweilig, und dann wird es wieder mords-gefährlich.

Am kommenden Sonntag wird in Nordrhein-Westfalen gewählt. Alle Immigranten, die schon von „Hartz-IV“ betroffen sind oder demnächst da hinein rutschen könnten, haben weder von der bisherigen Landesregierung noch von deren Herausforderern etwas Gutes zu erwarten. Von Wahlenthaltung natürlich noch weniger. Feleknas Uca würde empfehlen, ihre Partei zu wählen. Warum auch nicht, schlechter kann es für Arme kaum werden. Und vielleicht nützt der Blick auf eine erstarkende Linke ja auch den etablierten Parteien zur Besinnung auf die Grundlagen der „sozialen“ Marktwirtschaft. Dazu gehört halt mehr, als so oder anders über die von Heuschrecken ausgehende Gefahr zu schwadronieren.

Klar, soziale Wohltaten können nicht ohne Gegenfinanzierung durch entsprechende Einnahmen bezahlt werden, und da bedarf es mehr als die unproduktive Neiddiskussion über die Möglichkeiten, wie man die Reichen im Lande zur Kasse bitten kann. Da ist natürlich schon was zu holen, aber bei weitem nicht genug, um denen, die auf lange Sicht ohne Arbeit sein werden, ein menschenwürdiges Leben zu sichern. Da müssen die Lasten schon gleichmäßiger verteilt werden, denn auch viele, die noch Arbeit haben, bekommen nicht genug, um z.B. ihren Kindern eine Zukunft ohne Not zu sichern. Eine Erhöhung der Verbrauchssteuern auf das Niveau einiger Nachbarstaaten ist zwar kein Allheilmittel, aber man sollte daraus auch kein Tabu machen, es gibt da schließlich Gestaltungsmöglichkeiten, damit die Grundversorgung nicht verteuert wird.

Sehr zum mitunter schadenfrohen Vergnügen meiner Redaktionskollegen bin ich bekennender Fan des Fußballclubs „Hapoel Bnei Sakhnin“ aus dem Norden Israels. Seit mich mein damaliger Kommilitone an der Hebrew University in Jerusalem, der spätere Rechtanwalt Ibrahim Abu Saleh, Ende 1965 erstmals in seinen Heimatort Sakhnin eingeladen hat, verfolge ich, was dort passiert. Sakhnin hat heute ca. 20.000 Einwohner. Die ursprünglich zu Sakhnin gehörenden Agrarflächen wurden größtenteils vom israelischen Staat enteignet und jüdischen Siedlern zur Verfügung gestellt, weil sie angeblich schon zu Zeiten des ottomanischen Reiches Staatsland waren.

Am 30.3.1969 wurde darum dort unter maßgeblicher Beteiligung eines anderen Freundes, des anglikanischen Pfarrers Dr. Shehade Shehade, der „Tag des Bodens (Youm al-Ard)“ initiiert, der heute noch mit Demos in allen von palästinensischen Arabern bewohnten Orten Israels begangen wird. Auch, um der Weltöffentlichkeit zu demonstrieren, dass auch außerhalb der 1967 von Israel besetzten Gebiete der „Westbank“, Gaza-Streifen und Golan-Höhen heute ca. 500.000 Palästinenser leben, mit israelischem Pass und darum etwas besser gestellt als die „Brüder und Schwestern“ in den besetzten Gebieten, aber eben doch Staatsbürger minderen Rechts. Viele, so auch in Sakhnin, gelten als „anwesende Abwesende“, weil sie bzw. ihre Familie am Tage der Staatsgründung 1948 in ihrem Heimatort abwesend waren, z.B. weil zionistische Truppen sie zuvor zum Verlassen der Gegend aufgefordert, bzw. gewaltsam von dort vertrieben hatten. Da sie an jenem Stichtag den rechtmäßigen Besitz ihres Bodens nicht nachweisen konnten, wurde dieser konfisziert, auch wenn sie sich vorübergehend an einem anderen Ort Israels befanden und nicht in die Nachbarstaaten geflohen waren. Diese „Feinheiten“ des israelischen Staatsrechts sind nicht einmal der Mehrheit der jüdischen Bevölkerung dort bekannt, darum bitte ich um Verzeihung, dass ich sie hier so breit darstelle.

Zurück zum Fußball: Seit „Hapoel Bnei Sakhnin“ in der ersten israelischen Liga kickt, in der letzten Spielzeit Pokalsieger wurde und dann ein kurzes Gastspiel im Europacup gab, ist der Verein Identifikationssymbol der palästinensischen Minderheit in Israel. Wer von ihnen zu Spielen von Sakhnin ins Stadion geht, das ist so ein Gefühl wie in Gelsenkirchen, wenn man „auf Schalke“ geht. Und sollte das israelische Nationalteam nächstes Jahr in Deutschland an der WM teilnehmen, ist das maßgeblich ein Verdienst von Sakhnins Stürmerstar Abbas Suan, dessen Familie übrigens auch zu den „anwesenden Abwesenden“ gehört. Nicht zuletzt aus solchen Gründen hat Fußball in Sakhnin auch immer mit Philosophie und Politik zu tun.

In der englischsprachigen Tageszeitung „Ha’aretz“ wird etwa alle 2 Wochen ausführlich über Stadt und Club Saknin berichtet. In der Ausgabe vom 17. Mai 2005 im Zusammenhang mit nationalen Gedenktagen. Die Juden Israels gedachten der Ermordeten des Holocaust, ihrer Gefallenen in den Kriegen seit 1948 und der Staatsgründung vor 57 Jahren, ein Datum, das für die Palästinenser „Naqba“ heißt, Tag der Schande.

Mundar Haleile, Pressesprecher von „Hapoel Bnei Sakhnin“ und gelernter Philosoph, spricht von der Art, kollektiv Schmerz zu fühlen und zu verarbeiten. „Identifikation mit dem Schmerz (der anderen) kann an Voraussetzungen geknüpft sei. Ist das der Fall, verliert die Identifikation ihre Glaubwürdigkeit. Wenn Du also versucht bist, Parallelen zu ziehen, lass es lieber sein, auf keinen Fall aber solltest Du laut darüber nachdenken. Es beschädigt den Schmerz über den Holocaust oder führt zu Missverständnis. Andererseits, wenn Du die Parallele nicht ziehst, deren Realität Dein Gefühl Dir aufzeigt, wirst Du Dich anhören wie ein Narr, wie einer, der anderen schmeichelt. Als Araber müssen wir einen Weg finden Gefühl und Verstand in Einklang zu bringen: einerseits über den kollektiven Schmerz des jüdischen Volkes zu sprechen und uns damit zu identifizieren; andererseits haben wir auch unseren kollektiven Schmerz, unser Geschichte. Die Größe eines menschlichen Wesens besteht darin, dass es auch als Bestandteil einer Mehrheit die Gefühle der Minderheit mit fühlt.“

Wann wird es soweit sein, dass ähnliche Gedanken eines yezidischen Philosophen derart prominent in einer maßgelblichen Tageszeitung in Ankara, Damaskus, Teheran oder Baghdad veröffentlicht werden? 
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* Dieser Text gibt die Meinung des Autors wieder und ist nicht zwingend identisch mit der Meinung der gesamten Redaktion dieser Website.

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