Rosinenpicker Nr. 10, vom 31. Juli 2005

von Karl G. Mund

Einige meiner regelmäßigen Leserinnen und Leser wissen, dass ich in einem Haus lebe, das einer yezidischen Familie gehört, und dass ich für ihre 3 Kinder ein „ehrenamtlicher Opa“ bin. Demzufolge bin ich oft vor allem mit dem kleinen Azad (6 Monate) und seiner „großen Schwester“ Misgin, die im Winter 9 Jahre alt wird, im Städtchen unterwegs. Manchmal machen wir dann Pause am Bahnhof, da ist halt mehr los als anderswo im Ort. So auch in diesen Tagen. Schließlich war „Opa Karl“ fast 30 Jahre als Eisenbahner tätig, und da ist ein Bahnhof so eine Art Stammtisch für mich. Und wir haben auch „unsere" Bank dort, wo wir bei gutem Wetter im Sommer gern im Schatten eines großen Kastanienbaumes sitzen und die Menschen wie auch die großen und schnellen Maschinen beobachten.

Am letzten Donnerstag tanzte Misgin mal wieder auf der weißen Linie herum. Sie weiß genau, dass es gefährlich werden kann für sie, wenn ein schneller Zug vorbeirauscht. Aber sie weiß natürlich auch, dass ich sie rechtzeitig warnen werde. Und sie hat zudem schon erfahren können, wie schwierig es selbst für ein Kind mit ihrer Kraft und Sportlichkeit ist, sich gegen den Fahrtwind eines schnellen Güterzuges zu stemmen. Diesmal aber kam sie mit einer ganz speziellen Frage: „Wenn ich hier über die weiße Linie gehe, wird das von einer Kamera aufgezeichnet? Und wo ist diese Kamera?“

Da ich den Fahrdienstleiter in seinem Stellwerk schon einmal besucht hatte, konnte ich ihr sagen, dass von dort jede Bewegung auf den Bahnsteigen und in der Bahnhofshalle beobachtet werden kann. Was für sie bedeutet: wenn ihr etwas passiert jenseits der weißen Linie, weiß man, dass sie selbst schuld ist an ihrem Unglück, und wenn jemand sie in die Gefahrenbereich hinein stößt, weiß man, wer dieser Jemand ist. Das hat Misgin eingeleuchtet, und ich hatte den Eindruck, dass sie das auch in Ordnung fand. Sicher hat sie in den Tagen zuvor die Fernsehbilder aus London gesehen und sich ihren Vers darauf gemacht.

Es ist natürlich noch mehr passiert seit Rosinenpicker Nr. 9. Eine neue Raumfähre hat das Weltraumlabor erreicht, und die ganze Welt hofft, dass sie, aber in erster Linie die sieben Astronauten heil zurückkehren werden, die Fähre selbst ist ja wohl hoffentlich nur ein wenig lädiert. Als ich ein kleiner Junge war, wurde nicht weit von meinem Wohnort in Bremen ein Auto gebaut, das wegen seiner technischen Schwächen (u.a.: 250 ccm Zweitaktmotor) und der Verwendung von Holz und heute vorsintflutlich erscheinender Kunstfaserstoffe in der Karosserie im Volksmund „Leukoplastbomber" genannt wurde: „Wer den Tod nicht scheut, fährt Lloyd“ wurde gereimt. Wenn ich zur Blutabnahme zum Hausarzt gehe, wird die Einstichstelle hinterher mit Leukoplast verschlossen. Wenn die Astronauten Leukoplast an Bord hätten, . . . 

Und rechtzeitig zum Beginn des Wahlkampfes treibt DIHK-Präsident Ludwig Georg Braun unter dem Beifall von FDP-Leitfossil Rainer Brüderle mal wieder eine kapitale Sau durchs Land. Auszubildende sollten seiner Meinung nach nicht bis zu 800 Euro, sondern nur eine „Basisvergütung“ von 270 Euro erhalten. Herr Braun ist ein richtiges Schätzchen für die Wirtschaft unseres Landes, denn er löst so nebenbei das Problem des Mangels an Ausbildungsplätzen: für 270 Euro im Monat beginnen nur noch die Doofen eine Ausbildung, denn bei Hartz-IV bekommen sie schon 276 Euro plus „angemessene" Kosten für Miete und Heizung.

Aber in Wirklichkeit ist es wohl die Höhe dieses Betrages, die den Medizintechnik-Hersteller aus Melsungen bei Kassel stört, genau wie seine Freunde in der Politik. Warum haben diese Leute eigentlich so viel Angst davor, dass die Armen im Lande mit ihrem Einkommen auskommen könnten? All diese Herrschaften werden doch wohl nie in ihrem Leben in die Verlegenheit kommen, von Hartz-IV bzw. Alg-2 leben zu müssen. Meine Anfang 2004 verstorbene Mutter pflegte bei jeder Abwahl einer politisch bedeutenden Persönlichkeit sowie den mehr oder weniger freiwilligen Abgängen von Wirtschaftsbossen zu fragen: „Müssen die jetzt beim Arbeitsamt Stütze beantragen?“. Ich konnte sie immer beruhigen, und auch nach den Rücktritten von Peter Hartz und Jürgen Schrempp habe ich aus ihrem Grab keine Rotationsgeräusche gehört.

Es ist auch bezeichnend, dass die mir bisher bekannten Kommentare weniger die soziale Inkompetenz des Herrn Braun zum Thema hatten, als die Minderung der Beiträge, die von den Azubis zu den Sozialkassen fließen. Meine Rente liegt auch nur wenige Euro über dem als „Grundsicherung“ angesehen Betrag und um mir den „Luxus“ Internet leisten zu können, muss ich halt bei den Ausgaben für Lebensmittel sparen, für den Kauf „seniorengerechter" Waren und Dienstleistungen ist auch kein Budget vorhanden. Und auch der Vorwurf der „Kaufzurückhaltung“ der Deutschen trifft mich nicht: was rein kommt, wird auch ausgegeben, und wo das Geld fehlt, kann halt nichts gekauft werden. Dabei bräuchte ich dringend Ersatz für meinen 9 Jahre alten Computer. Na ja, wenn Teile abfallen, muss ich halt die Leukoplastrolle holen, vielleicht hilft wenigstens das dem Wohlergehen von Herrn Braun, falls der inzwischen vielleicht an der Herstellerfirma des Heftpflasters beteiligt ist.

 

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