Rosinenpicker Nr. 11, vom 19. August 2005

von Karl G. Mund

Der Rosinenpicker war für knapp eine Woche mit seinem ehrenamtlichen Enkel Mazlum in Berlin. Wie erklärt man einem Kind, das gerade das 4. Schuljahr abgeschlossen hat, die hohe Politik? Bisher hat Politik in der Schule noch nicht stattgefunden. Zu Beginn des neuen Schuljahres wird der Stoff wohl wegen der Aktualität behandelt werden, und dann kann Mazlum wenigstens sagen, dass er schon gesehen hat, wo die Politik gemacht wird. Ein Kind, das Jahre nach der „Wende" geboren wurde: wie kann es begreifen, dass quer durch diese Stadt eine Grenze verlief, dass die Menschen, die heute gemeinsam in dieser Stadt leben, veranlasst wurden, sich als Feinde anzusehen? Er sieht mit Blumen geschmückte Kreuze am Spreeufer hinter dem Reichstagsgebäude. „Was bedeutet das?" „Vorgestern vor 44 Jahren . . .“ - was erzähle ich da einem 11-jährigen über einen Tag lange vor der Geburt seiner Eltern?

An der Haltestelle „Kanzleramt“ haben wir den Bus verlassen. Fasziniert beobachtet Mazlum, wie die Stahltore der PKW-Ausfahrt im Boden verschwinden, damit ein Wagen den Gebäudekomplex verlassen kann. Und dann die vielen Leute in grünen Uniformen. Versteht er nicht, was die alle wollen, auch von uns, als wir durch die Sicherheitsschleuse zur Kuppel des Reichstagsgebäudes gehen.

Und dann war da noch die Sache mit dem Herrn St. aus Bayern, der sich so gerne reden hört. Kruzitürken aber auch!, da hat er es denen im Osten aber gegeben! Die Frustrierten sollen keine Wahl entscheiden. Bin ich frustriert? Eigentlich nicht. Dass ich meine, für die von Hartz-IV Betroffenen im Lande sei die jetzige Regierung genau so schlecht wie die jetzige Opposition, das drückt nicht meinen Frust aus, sondern meine persönliche Einschätzung der Realität, also, da fühle ich mich nicht getroffen. Er hat mich ja auch nicht gemeint, ich bin ja kein "Ossi". Ein Bayer allerdings auch nicht.

Aber weil ich nun durchaus Sympathie habe für die Partei des anderen Politikers mit spitzer Nase, vergleicht er mich doch mit einem Kalb. "Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber". Das war eine politische Parole vor rund 75 Jahren und galt jenem Herrn mit schütterem Schnauzbart. John Heartfield stellte die Szene dar in einer Karikatur für die "Arbeiter Illustrierte Zeitung", kurz: AIZ. Und er rief damit auf, links zu wählen, kommunistisch, um genau zu sein. Die Dummheit vieler Deutscher Wähler, in Bayern wie im Rest des Landes, dass sie erst mehr als 12 Jahre später wieder die Wahl hatten, und zum Teil dann auch mehr der Form halber, als dass sie in der Lage waren, wirkliche Änderungen herbeizuwählen. Und heute?

Der Herr aus Bayern hält mich also für ein Kalb. Damit könnte ich ja noch leben, wofür der mich hält, ist ja schließlich sein Problem. Aber: ich bin doch nicht blöd! Ich schau mir die Kandidaten doch an. Und wenn ich dann die virtuellen Schlachtermesser sehe, die sie hinterm Rücken vor mir verstecken und den Kakao, durch den sie mich ziehen möchten, dann wächst mein Misstrauen gegen jede nach gängiger Weise errechnete Regierungskoalition, und ich bin geneigt, die zu wählen, die gegen jede denkbare Koalition aus bisheriger Regierung wie Opposition opponieren werden, und zwar so lange, wie sie nicht Gefahr laufen in eine Regierung ein(ge)treten (werden) zu wollen. Dann muss ich nach einer neuen Opposition suchen.

Ach so, da wird aus den Reihen der jetzigen Koalition die Frage nach der Finanzierbarkeit der linken Forderungen gestellt. Ja, liebe Leute, habt Ihr denn vergessen, wie Lohnrunden ablaufen? Die meisten von Euch haben sicher noch ihr Gewerkschaftsbuch. und da weiß man doch, dass nur wer 5 Prozent Lohnerhöhung fordert, am Ende 2 Prozent erhalten wird. Wer staatstragend 2 Prozent fordert, geht leer aus, kriegt möglicherweise stattdessen noch eine Steuererhöhung, weil durch niedrige Lohnzuwächse nicht genug Kohle beim Finanzminister landet. Und mein Schmusekrokodil faucht mir gerade die alte Spontiweisheit zu: „Seid Realisten, fordert das Unmögliche!“ Dies füge ich als Erinnerungshilfe für meinen alten Freund Joschka an.

Die dickste Rosine in dieser Woche war wohl der Besuch von PapaRatzi in Köln und Umgebung. Von seinem Vorgänger, der ja auch als Schauspieler tätig war, konnten wir gepflegtes Entertainment erwarten, und er hat uns bis zu seinem letzten Tag nie enttäuscht. Der bayrische Nachfolger war nicht einschlägig bekannt, ein Mann des Wortes. Und so war es gut, dass er eben nicht nach der Landung die Heimaterde küsste, er hätte es wohl auch nicht in München getan. Seinem Stil als Entertainer aber muss und will ich gern Respekt zollen. Er hat sein Publikum in der Hand und versteht es die guten Seiten einer Menschenmenge zu provozieren. Wegen ihrer als heilig verehrten Gebeine im Dom zu Köln wurden immer wieder die „Weisen aus dem Morgenlande“ erwähnt. Könnte sein, dass es exakter betrachtet Weise aus dem Yezidenlande waren, schließlich gab es den Legenden zufolge schon mehr als 1500 Jahre zuvor Beziehungen zwischen Kurdistan und Palästina durch die Viehbarone (Axas) Abraham, Isaak und Jakub, die in Palästina lebten und ihre Frauen irgendwo zwischen Urfa und Mosul fanden. Also wäre wohl vorzuschlagen, dass Benedikt XVI bald einmal bei passender Gelegenheit den Mir der Yeziden zum Kaffeeplausch im Vatikan einladen möchte, ein Besuch Benedettos in Lalish wäre zwar noch schöner, aber aus Sicherheitsgründen vorerst nicht realisierbar.

Ach ja, noch was Schönes habe ich heute nachmittag gehört: Als der Papst das Weihrauchfass um den Altar schwang, sang der Chor das „Magnificat“. Ich hoffe, dass die orange gewandete Kandidatin der schwarzen Partei gut zugehört hat, denn zentrale Zeilen „dieses Lobgesanges der Maria“ lauten:

. . . Denn Großes hat der Mächtige an mir getan,
und heilig ist sein Name.
Und seine Barmherzigkeit ist von Geschlecht zu Geschlecht
über die, welche ihn fürchten.
Er hat Macht geübt mit seinem Arm,
er hat zerstreut, die in der Gesinnung ihres Herzens hochmütig sind.
Er hat Mächtige von Thronen hinabgestoßen
und Niedrige erhöht.
Hungrige hat er mit Gütern erfüllt
und Reiche leer fortgeschickt. . . .

Der Platzhirsch und die anderen Aspiranten täten natürlich auch gut daran, wenn sie diese Worte in ihren Herzen bewegten, nicht nur bis zum 18. September, sondern auch danach.

 

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