Rosinenpicker Nr. 12, vom 24. August 2005
von Karl G. Mund
Während viele Menschen in Deutschland dem Papstbesuch in Köln entgegen fieberten,
las der Rosinenpicker am 16. August in der Frankfurter Rundschau, dass Angela Merkel die vom
Noch-Bundeskanzler vorgeschlagene Anhebung der Alg-2 Regelsätze in den östlichen
Bundesländern auf Westniveau ablehnte. Mit der Begründung 300 Millionen Euro im Jahr wären
nicht finanzierbar. Worauf Herr Schröder meinte, 0,12 Prozent vom Bundeshaushalt müssten ja wohl
irgendwo abzuknapsen sein. Beide durchgefallen bei der Wahlprüfung im Fach Politische Ökonomie.
Beide haben nämlich den Blick verloren für die wirkliche Lage der Alg-2 Bezieher
im Osten wie im Westen. Wer bei dieser Einkommenslage ein klein wenig mehr erhält als bisher, wird dieses
umgehend für bitter notwendige Dinge ausgeben, also die Binnenkonjunktur um diese 300 Millionen Euro
ankurbeln. Besonderer Hinweis für Frau Merkel: Die vereinnahmten Mittel der Armen im Osten des Landes
sind brutto, die dafür erhaltenen Waren netto, die Differenz erhalten die öffentlichen Kassen in
Form von Mehrwertsteuer, diese wiederum netto aus Sicht des Fiskus. Kannste mir folgen Angie?
Würden die Regelsätze für Alg-2 noch weiter angehoben, sagen wir mal
bescheiden um wenigstens 50 Prozent im sozial vereinten Lande, wäre der damit verbundene Konjunkturschub
nach kurzer Anlaufphase ein sogenannter Selbstläufer, auf jeden Fall für die Volkswirtschaft
wertvoller als weitere Steuernachlässe für Leute mit über 25.000 Euro Jahreseinkommen, die
eher in Fondszertifikaten (mit Steuersitz z.B. in der Karibik) angelegt werden, als sofort in den Kassen des
nächsten Supermarktes zu landen oder beim Fahrradhändler wie beim Bekleidungsladen.
Um Missverständnissen vorzubeugen: ich gönne allen Leuten ihr gutes Einkommen für
qualifizierte Arbeit, und ihnen soll auch nichts von ihrem jetzigen Einkommen weggenommen werden.
Aber damit auch deren Arbeitsplätze für die Zukunft gesichert sind, sollten sie zugunsten
der ärmsten 20 - 25 % im Lande (Arbeitslose, Alleinerziehende und Arbeitnehmer in den unteren
Lohngruppen, darunter sehr viele Behinderte und Zuwanderer) für eine gewisse Zeit auf zusätzliche
Wohltaten des Staates verzichten. Es gibt sehr viel zu tun für die jetzt Arbeitslosen, aber es sollten
auskömmlich bezahlte Arbeitsplätze für die arbeitsfähigen unter ihnen angeboten werden,
nicht Almosenjobs oder Ausbeutungsverhältnisse für 1 Euro pro Stunde. Dies auch zum Wohle des
Handwerks, damit sich Schwarzarbeit nicht mehr lohnt.
Diese von mir geforderte Umorientierung der sozialen Marktwirtschaft würde auch
der überwiegenden Zahl der Yeziden in meinem Städtchen nützen und ihnen sicher bei der weiteren
Integration helfen.
Die CNN-Nachrichten zeigten eine Grafik, die die Machtvereilung im Irak zeigte, wie im neuen
Verfassungsentwurf vorgesehen. Mir fiel auf, dass praktisch alle Gebiete westlich des Tigris-Oberlaufs nördlich
von Tikrit dem sunnitischen Einflussgebiet zugeschlagen werden sollen. Damit bekäme Saddam Husseins
Arabisierungspolitik den Stempel der Endgültigkeit, wenn nicht am Ende doch noch eine mehr als bisher
säkulare Verfassung mit rechtsstaatlicher Grundlage durchsetzbar wäre, was aber wohl utopisch ist.
So ist nun fraglich, ob in der Region der Sindjar-Berge noch Yeziden leben können. Ein großer Teil
von ihnen ist ja schon in den vergangenen rund 30 Jahren „ethnisch weggesäubert“ worden. Aber auch für die
Gebiete östlich des Tigris muss immer wieder die Frage gestellt werden: Wieviel Wert hat ein
Verfassungssatz über die Freiheit der Religionsausübung, wenn das Recht des Landes an den
religiösen Rechtssätzen der Mehrheitsreligion ausgerichtet wird? Kann Präsident Talabani nach
der endgültigen Annahme der neuen Verfassung durch Parlament und Volk des Irak sagen wie vor rund 250
Jahren Friedrich II, König in Preußen: „In meinem Land soll jeder nach seiner eigenen
Façon selig werden“?
Ach, wär das schön.
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