Rosinenpicker Nr. 15, vom 22. Februar 2006

von Karl G. Mund

Es ist immer wieder lehrreich, wenn der Rosinenpicker einen Blick in die israelische Presse wirft. Denn dort erfährt man heute schon, was zu erwarten ist, wenn ein Staat gleichzeitig „modern“ sein will und dabei der Religion, der die Mehrheit der Bevölkerung angehört, die bestimmende Macht in der Politik des Staates zugesteht.

Da hat doch ein US-Obergericht einen Fall an das zuständige Bezirksgericht zurückgewiesen, in dem es scheinbar um eine Nichtigkeit geht. Das Recht eines Kindes darauf, dass sein Geburtsort korrekt im Reisepass vermerkt ist. Das Kind, vertreten durch seine Eltern, verlangt den Eintrag „Jerusalem, Israel“ im Pass. Aber die Ausstellungsbehörde hat Anweisung nur „Jerusalem“ einzutragen, im Widerspruch zu einem im US-Parlament 2002 verabschiedeten Gesetz, das im Sinne des Kindes bzw. dessen Eltern entschieden hatte.

Das – jüdische – Kind verklagt nun das ausstellende Konsulat, dass ihm dadurch ein Schaden entstanden sei. Klingt reichlich seltsam, oder? Nicht so, wenn es um Jerusalem geht. Als Jerusalem noch eine geteilte Stadt war, mit Mauer, Stacheldraht und Minenfeldern, also vor dem Juni 1967, residierte die Regierung Israels bereits im Westen der Stadt. Jedoch bis heute befinden sich alle bedeutenden Botschaften in Tel-Aviv, die der meisten EU-Länder, natürlich die deutsch und auch – und gerade – die der USA.

Nach dem 6-Tage-Krieg 1967 annektierte Israel den östlichen Teil Jerusalems und gleich einige palästinensische Dörfer dazu. Die Bewohner wurden – entgegen den Bestimmungen des Völkerrechts – dazu nicht gefragt. Ganz gleich, welche Partei in Israel regierte, am Anspruch auf das „einige Jerusalem“ als „ewige Hauptstadt Israels“ wurde festgehalten.

Aber die Einigkeit hat ihre Grenzen. Sehr sichtbare sogar. Quer durch das Stadtgebiet – allerdings möglichst nicht in Sichtweite der üblichen Touristenwege – verläuft heute eine Trennungslinie, teilweise Zaun, teilweise eine Mauer, die doppelt so hoch ist wie jene im Berlin vor 1990. Die Bevölkerung von rund 700.000 lebt etwa zu gleichen Teilen zu beiden Seiten der Trennungslinie.

Es werden vermutlich mehr palästinensische Kinder in Jerusalem geboren als jüdische. Und es gibt sicher auch Familien von „jenseits der Mauer“, die in die USA auswandern und sich mit ihren Kindern dort einbürgern lassen wollen. Diese Kinder mögen aber eher das Gefühl haben, dass der Eintrag des Geburtsortes im US-Pass „Jerusalem, Israel“ ihnen einen vergleichbaren Schaden zufügt wie damals, als die Wohnorte ihrer Eltern völkerrechtswidrig annektiert wurden.

Diese letzte Überlegung fand sich leider nicht in dem Beitrag von Samuel Rosner, dem US-Korrespondenten von „Ha'Aretz“. Sie war auch nicht berücksichtigt worden bei der Beratung des erwähnten Gesetzes im Kongress der Vereinigten Staaten von Amerika. Es ist ein Lehrstück, dass eine bürokratisch vorgehende Behörde – im vorliegenden Fall das US-Konsulat in Tel-Aviv – unter bestimmten Voraussetzungen mehr politische Weisheit an den Tag legt als das „Hohe Haus“ eines demokratisch gewählten Parlaments. Allerdings lege ich Wert auf die Feststellung, dass dies eine Ausnahme ist, die nicht zur Regel werden sollte. „Videant consules“: die Konsuln mögen darauf achten, hieß es im alten Rom.

Warum gebe ich diesem Prozess um eine „Nichtigkeit“ soviel Raum? Nun, es beleuchtet in fast kafkaesker Weise eine Situation, die entsteht, wenn in einem Staat die Religion eines Teils seiner Bürger – egal ob Minderheit oder Mehrheit – bestimmenden Einfluss auf die Politik nimmt.

Die im letzten Herbst durch Volksabstimmung beschlossene Verfassung des Irak wird vom am 15. Dezember gewählten Parlament abschließend beraten werden. In dieser Verfassung ist festgelegt worden, dass diese Verfassung und kein Gesetz, das auf der Grundlage dieser Verfassung beschlossen wird, gegen grundlegende Prinzipien des Islam als Religion des Staates verstoßen darf. Warten wir ab, was in den kommenden Monaten und Jahren daraus entstehen wird in Bezug auf nicht-islamische Bürger Iraks.

Ein zweiter Blick in die heutige Ausgabe von „Ha'Aretz“ ist nicht minder lehrreich: Die israelische Regierung plant für die Armee einen Chef-Rabbiner (im Generalsrang) zu berufen, der sich in der Vergangenheit damit hervorgetan hat, dass er religiöse Verhaltensrichtlinien (ähnlich wie „fatwas“) an Soldaten herausgab, die zum Inhalt hatten, dass die jüdische Halakha (das Gegenstück zur Schari'a) Vorrang vor anderen Rechtsgütern habe.

Im konkreten Fall ging es darum, ob ein jüdischer Sanitätssoldat am Sabbat, wo Arbeit untersagt ist, solange sie nicht Leben rettet, einen verletzten Selbstmordattentäter notfallmedizinisch behandeln dürfe. Der designierte Armee-Oberrabbiner, noch dazu Bürger einer völkerrechtswidrig errichteten Siedlung im besetzten Westjordanland, entschied, dass das Sabbatgebot Vorrang haben müsse, wenn es sich um das Leben eines Terroristen handele.

Nun mag mensch einwenden, dass ein verletzter Selbstmordattentäter ja eh sterben wollte. Aber denken wir das Problem mal etwas weiter. Und wandern vom Jordan an den Tigris. Wie wird ein Gericht in Mosul urteilen, wenn ein Moslem einen Yeziden verbluten ließ, der während des Ramadan von seinen Freunden zusammengeschlagen wurde, weil er in der Öffentlichkeit eine dänische Zigarre rauchte und, wie sich nachher herausstellte, in der Aktentasche dänische Karikaturen trug? Der Angeklagte verteidigt sich damit, dass der Verletzte den Propheten mehrfach beleidigt und somit die Religion des Staates verunglimpft, daher kein Recht auf Leben habe.

Wie wird der weise Richter urteilen?

 

Impressum