Rosinenpicker Nr. 24, vom 20. Februar 2007

von Karl G. Mund

 

Der Rosinenpicker wurde vor einiger Zeit zu einer êzîdischen Veranstaltung eingeladen. Das kommt öfter vor, war aber bisher noch nie von so einprägender Wirkung wie bei besagter Veranstaltung, die ansonsten in diesem Beitrag ungenannt bleiben soll, um andere Veranstalter nicht neidisch zu machen. Diejenigen, die als Gastgeber oder Gäste ebenfalls an der Veranstaltung teilnahmen, werden vermutlich froh sein, dass der Rosinenpicker ihre Exklusivität dadurch respektiert.

Entgegen einiger Befürchtungen, die dem Rosinenpicker im nachhinein aus Veranstalterkreisen zu Ohren kamen, möchte er hier ausdrücklich klarstellen, dass er dieser Veranstaltung einige wesentliche Erkenntnisse über die Arbeitsweise dieser ihm zuvor nicht näher bekannten êzîdischen Vereinigung verdankt, was als Anregung vielleicht auch für verantwortliche Mitglieder anderer êzîdischer Vereine konstruktiv nutzbar sein könnte, wenn sie darüber in dieser Publikation lesen.

Als erstes lernte der Rosinenpicker, dass ein nicht-êzîdischer Gast einer solchen Veranstaltung erst einmal so platziert werden soll, dass er geplante Abläufe möglichst nicht stört. Das ist sicher allgemein nachvollziehbar. Außerdem sollten auch später kommende Vorstandsmitglieder nicht dadurch in ihrer Festfreude gestört werden, dass ihnen der abseits platzierte Gast vorgestellt wird und sie sich eventuell sogar zu einem Gespräch mit ihm verpflichtet fühlen könnten. Auch für diese Erkenntnis ist er dem Vorsitzenden besagten Vereins ausdrücklich dankbar. Lediglich ein 16-jähriger Schüler war so undiszipliniert, dem Gast eine Zeitlang Fragen zu stellen. Kleinere Kinder, die ihre Neugier nicht bezwingen konnten, wurden von älteren Brüdern an die Tische der Familie geleitet.

Was wäre eine êzîdische Feier ohne Musik? In diesem Falle unterstrichen die engagierten Musiker ihre überragende Bedeutung zunächst einmal damit, dass sie die Festversammlung zwei Stunden lang andächtig auf ihr so bedeutsames Erscheinen warten ließen. Der die Veranstaltung leitende Vereinsvorsitzende unterstrich die Wertschätzung dieser Künstlergruppe noch dadurch, dass er nicht etwa den Fehler beging, die Andacht der Versammlung durch eventuelle Alternativdarbietungen zu gefährden.

Nach Eintreffen der Musiker wurde dem Rosinenpicker ihre einmalige künstlerische Bedeutung auch dadurch verdeutlicht, dass sie offenkundig die Gabe besaßen die real existierende Raumhöhe virtuell so zu überhöhen, dass die damit verbundene Akustik sich an ihre Musik anzupassen hatte und nicht umgekehrt, wie es der Rosinenpicker bis dahin bei Darbietungen minderwertigerer Musiker erfahren hatte, die mit einem aufwändigen Soundcheck gemeinhin ihre Zuhörer zu nerven pflegen. Der Rosinenpicker, der bis dahin geglaubt hatte, dass solch ein Soundcheck einfach unumgänglich wäre, wurde durch diese Künstler eines Besseren belehrt, wofür er an dieser Stelle sein anerkennendes Erstaunen und seine Dankbarkeit für den Erkenntnisgewinn ausdrückt.

Als nächstes muss sich der Rosinenpicker bedanken für die Vermittlung einer für ihn außerordentlichen Selbsterfahrung. Nämlich der Bewusstwerdung einer Hörbehinderung durch eine überwältigende Konfrontation mit der Naturgewalt genuin êzîdischer Musik in einer einzigartigen Symbiose mit westeuropäischer Elektronik. Er weiß nur noch nicht, ob diese Behinderung angeboren oder anerzogen ist. Er möchte aber aus Respekt vor der Erziehungsleistung seiner Eltern lieber annehmen, der Schaden sei auf ein auditives Geburtstrauma zurückzuführen, da er darüber unterrichtet wurde, dass während der Nacht seiner Geburt die 80 km vom Geburtsort entfernte niedersächsische Hauptstadt einem extrem starken Angriff durch Bombergeschwader der US - Air Force ausgesetzt war. Er möchte vielleicht gerade deshalb seine Eltern nicht posthum dafür kritisieren, dass sie ihn als Kleinkind vor jeglicher stärkeren Geräuschkulisse bewahren wollten, und auch später im Umgang mit ihm eher leise Töne bevorzugten.

Der Rosinenpicker machte darüber hinaus dankenswerter Weise die wertvolle Erfahrung, dass eine gewisse Anzahl êzîdischer Eltern ihre zu diesem Fest mitgebrachten Kinder - zum Teil schon vom Säuglingsalter her - im Sinne einer vermutlich wohl medizinisch indizierten Immunisierung einem ziemlich hohen Geräuschpegel aussetzen. Es steht daher zu erwarten, dass diese Kinder deshalb im späteren Leben sehr gute Berufsaussichten beim Straßenbau oder in der Stahl verarbeitenden Industrie haben werden, da sie ihren künftigen Arbeitgebern die lästigen und daher bei diesen unbeliebten hohen Ausgaben für Gehörschutzausrüstung ersparen könnten.

Die Gehörnerven des Rosinenpickers reagierten dagegen vermutlich in einer wie gesagt ihm jetzt erst bewusst werdenden Analogie zu dem bereits erwähnten über 63 Jahre zurückliegenden Geburtserlebnis und hatten sich, und damit die Person des Rosinenpickers, für mehrere Stunden von der Umwelt auditiv abgeriegelt. Was zur Folge hatte, dass der Rosinenpicker wegen der Manifestierung dieses in seiner Person begründeten Fehlers nicht mehr in der Lage war, dem weiteren Verlauf des Festes zu folgen sowie seine eigene Aussprache zu kontrollieren und es vor dessen Höhepunkt verlassen musste. Dass seine Gastgeber dies als Unhöflichkeit und sogar als Beleidigung missverstanden, dafür möchte er diese hier noch einmal ausdrücklich und öffentlich um Verzeihung bitten.

Da er zeitweise zumindest physisch verständnislos war, wollte er die sicher schöne und in sich harmonische parallelgesellschaftliche Feier nicht weiterhin durch seine unerhört unhörende und somit ungehörige Anwesenheit beeinträchtigen. Der Veranstaltungsort am Rande einer Industriezone in einer deutschen Großstadt, in gefühlvoll separierter Entfernung von den üblichen Feierorten der lokalen Mehrheitsbevölkerung, aber nahe am Bahnhof einer Nahverkehrslinie, ermöglichte dem Rosinenpicker zudem, sich still zu entfernen ohne seinen Gastgebern weiter lästig fallen zu müssen.

 

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