Religion in der Geschichte
Zu allen Zeiten haben Menschen versucht über den Tellerrand ihrer Existenz zu schauen, zu erfahren,
was außerhalb ihrer sinnlichen Wahrnehmungsgrenzen oder jenseits ihrer körperli-chen Wesenheit geschieht. Alles
vordergründig Unerklärbare musste einen Namen bekom-men, denn nur was mensch benennen kann, vermag mensch zu
kontrollieren. Die Benennungen wechselten im Wandel der Zeiten wie auch von Ort zu Ort und analog der Entwicklung
menschlicher Produktivkräfte. Dazu ein Vergleich von yezidischer und jüdischer Gottesauffassung: Xwede – „der sich
selbst erschuf“, das ist eine Umschreibung, nicht eine Benennung. Daher der Anspruch, dass Gott über die Menschen
herrscht, und nicht umgekehrt. Ähnlich in der jüdischen Mythologie. Hier wird ausdrücklich verboten, Gott zu benennen.
Seit Beginn der Eisenzeit haben Menschen sich mehr oder weniger darauf geeinigt, alles nicht
Erklärbare in den Raum und Rahmen des Göttlichen zu verweisen, jedes Volk auf seine Weise. Der jeweils erreichte
Stand war dann wieder maßgeblich für die Weiterentwicklung. Wenn darum Menschen heute sich einbilden, sie brauchten
die Entwicklung des Göttlichen in der Geschichte, nennen wir es mal Religion, nicht zu beachten, um den scheinbaren
Selbstlauf der Entwicklung nicht zu stören, so würde ich das als historischen Irrtum betrachten.
Diesem Irrtum ist besonders die europäische Linke erlegen, spätestens seit Mitte des 19. Jhdt. Wer
wäre Marx ohne 2 Jahrtausende Kirchengeschichte nebst all ihren Glaubenskriegen und anderen Verirrungen? Marx wußte
das, seine Schüler haben in der Mehrzahl darüber hinweg gelesen, besonders jene, die nach Errichtung einer neuen,
noch nie dagewesenen Organisation von Gesellschaft und Herrschaft strebten. Aber er war sich seiner Rolle als Ketzer
bewusst, und heute kann man konstatieren, dass eine jede Religion in der Menschheitsgeschichte nur so gut sein konnte
wie die besten ihrer Ketzer. Auch und gerade die Religion, die sich heute noch Marxismus nennt, wobei "-ismus" auch
auf den Charakter als Religion hinweist.
Geht Yeziden das was an? Ich denke, ja. Es gibt viel zu untersuchen. Zum Beispiel: Wie unterscheiden
sich Überlieferungsstränge aus unterschiedlichen Gegenden, wenn einige der zu untersuchenden Gebiete zeitweise nicht
unter direkter Kontrolle des osmanischen Reiches standen? Der Begriff „Kontrolle“ spiegelt hier den unterschiedlichen
Status von Autonomie in den von Yeziden besiedelten Bergregionen. Was war anders im Raum Urfa im Gegensatz zu dem
Gebiet zwischen dem Urmia- und Van-See? Danach sind vielleicht die Gemeinsamkeiten noch einmal extra zu untersuchen.
Ein weiteres Untersuchungsgebiet sind die Beziehungen zum Islam: Welchen Einfluss hatte und hat das von islamischen
Kurden ausgeübte Brauchtum auf die Minderheit yezidischer Kurden? In welcher Weise wurden und werden yezidische
religiöse Inhalte davon berührt und verändert?
Karl G. Mund
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