Vom Umgang mit Legenden

Ich kenne zwei Arten des Umgang mit alten Legenden und Mythen:

1. Die Untersuchung des sprachlichen Charakters, die Suche nach typischen Wortbildungen und grammatischen Besonderheiten, um so Zeit und Region der ursprünglichen Abfassung ermitteln zu können. Diese Methode ist immer dann besonders erfolgversprechend, wenn keine oder nur wenige Anhaltspunkte für Herkunftszeit und Herkunftsregion bekannt sind.

2. Die Untersuchung des Inhalts auf Widersprüche gegenüber der allgemeinen Tendenz, die in Zeit und Ort der ursprünglichen Abfassung vorherrschte, soweit aus gesicherten anderen Zeugnissen jener Periode bekannt. Da allgemein in der Geschichtsschreibung darauf geachtet wurde, die für die jeweiligen Helden negativen Aspekte nicht zu überliefern, wenn es sich denn irgend vermeiden ließ, weist das Vorhandensein solcher negativen oder auch nur von der vorherrschenden Tendenz abweichenden Texte darauf hin, dass diese Inhalte so stark im Bewußtsein der Bevölkerung verwurzelt waren, dass sie sich häufig der Redaktion entzogen.

Die Untersuchung nach dem sprachlichen Charakter setzt natürlich Kenntnisse der jeweiligen Sprache voraus, ist also für interessierte Laien kaum anwendbar, sie müssen sich auf bereits veröffentlichte Erkenntnisse der Wissenschaft verlassen, da oft selbst in Bezug auf die eigene Volksgruppe die maßgeblichen Legenden und Mythen in einer Sprachform abgefaßt wurden, z.B. in Mittelhochdeutsch, Altgriechisch, Kirchenlatein, Hocharabisch, Sanskrit usw., die heutigen Menschen nicht mehr geläufig ist, und darum für den allgemeinen Gebrauch in die heute gängige Sprachform übersetzt und fortlaufend angepaßt wird. Dabei gehen mitunter inhaltliche Elemente verloren oder es werden Teile ergänzt, um die Überlieferung für heutige Leser verständlich zu machen. Und damit können auch heutige religionspolitische Tendenzen Eingang in die alten Mythen finden. Je stärker die „göttliche Herkunft“ der legendären oder mythischen Überlieferung betont und behauptet wird, desto mehr Vorsicht ist angebracht bei den Zuhörern oder Lesern.

Das sollte aber niemand entmutigen, sich mit den Inhalten von Legenden und Mythen zu befassen. Es besteht natürlich immer die Möglichkeit, wissenschaftliche Abhandlungen zum jeweiligen Thema zu Rate zu ziehen, aber auch ohne die sind Erkenntnisse möglich. Ich erinnere an das deutsche Hausmärchen „Von des Kaisers neuen Kleidern“. Da wird berichtet, als alles Volk die nicht vorhandenen kaiserlichen Kleider bejubelte, habe ein Kind - und es wird als besonders dumm beschrieben – gerufen: „Aber der ist ja ganz nackt!“.

Darum versetze ich mich so gern in jenes Kind, wenn mir Legenden, Märchen und Mythen erzählt werden, und ich suche den nackten Kaiser darin. Und es gibt in diesen Geschichten so manchen nackten Kaiser, dessen Gestalt und Geschichte erquicklich zu betrachten ist, oft und gerade auch dann noch, wenn ich den jeweiligen Kaiser mit entsprechenden Majestäten aus anderen Geschichten vergleiche.

Man möge mir verzeihen, wenn ich religiöse Mythen auch so betrachte wie jenes Kind den Kaiser. Wenn ich wegnehme, was im Laufe der Geschichte um so manchen mythischen Kern gelegt wurde, dann bleibt mitunter eine Leere, manchmal aber auch wirklich faszinierende Erkenntnis. Denn vieles in unseren Legenden und Mythen ist Beiwerk, das beigegeben wurde, um den Kern des Inhalts zu verschleiern - in des Wortes direkter Bedeutung, weil es Zeiten in der Überlieferung gab, wo so manches Detail der Geschichten als peinlich angesehen wurde, als unbedeutend oder gar falsch. Und wenn dieses dann über viele Jahrhunderte Bestand hatte und uns heutigen Menschen noch erzählt wird, dann ist das, als finde ein Goldsucher einen ganz dicken Klumpen des edlen Metalls, oder um im Bild des Kaisers zu bleiben: die neuen Kleider sind wirklich schön.

In den mir bekannten Mythen und Legenden sehe ich vor allem vielfältige Versuche, die Welt und ihre offenbaren Ungereimtheiten zu erklären, die Gegenwart zurückzuführen auf ihren Ursprung. Und das mit den Erkenntnismöglichkeiten, wie sie gerade bestanden – zur Zeit der ersten Abfassung der jeweiligen Geschichte. Im Laufe der Zeit wurde mitunter der Text an die veränderte Erkenntnislage angepasst, die Form geglättet, Widersprüche gelöst, schließlich eine Niederschrift gefertigt. Aus Mythen und Legenden wurde so Literatur.

Religiöse Mythen haben gemeinhin eine etwas andere Entwicklung. Ihr Wortlaut gilt als unveränderbar, da göttlichen Ursprungs. Das bringt besonders für Buchreligionen Probleme mit sich. Aber wie so oft im Leben, wo etwas grundsätzlich verboten ist, wird das Verbot besonders häufig übertreten. Weil ich im Christentum aufgewachsen bin, kann ich da am besten konkret reden und entnehme auch vor allem da die Beispiele. Ich wage aber die Behauptung, dass es bei Juden und Muslimen nicht wesentlich anders verlaufen ist.

Viele religiöse Mythen haben zum Ziel, die jeweilige Gottheit als wirklich und einmalig zu beweisen, sie gegen jeden Zweifel zu verteidigen. Das nennt die wissenschaftliche Theologie „Apologetik“, und die hat es im Christentum zu besonderer Qualität gebracht. Je stärker das Bedürfnis danach, desto brennender das Verlangen nach Wundern. Der Realitätssinn der Glaubenden wird da auf manch harte Probe gestellt. Mitunter sind einfache Wunder nicht genug, dann werden gleich mehrere Naturgesetze auf einmal vergewaltigt. Ich denke da besonders an die Marienerscheinungen im portugiesischen Fatima mit ihrer politischen Ausrichtung gegen jede Art von sozialistischen Bestrebungen, das Grabtuch in Trier oder die „echten“ Tränen des heiligen Januarius in Neapel. Eine große Übersicht über solche frommen Übertreibungen und Fälschungen finden sich im 700-seitigen Wälzer „Und abermals krähte der Hahn“ von Karlheinz Deschner wie auch in dem weiteren von ihm herausgegebenen Buch „Kirche und Krieg“.

Mehr oder weniger übertriebene Wundergeschichten finden sich in nahezu allen mir bekannten Religionen. Sie alle haben das Ziel, die Einzigartigkeit und den überragenden Wert der eigenen Religion herauszustellen und sie gegen jeden Zweifel und Angriff zu verteidigen. Das hat in der Geschichte der Religionen zu fürchterlichen Kriegen geführt, und schlaue Politiker haben solche Situationen stets genutzt zum Erhalt und zur Erweiterung ihrer Macht. Dort, wo das Volk der Glaubenden als von seinem Gott auserwähltes dargestellt wird, also zum Beispiel in der jüdisch-christlich-islamischen Tradition, wird die vorgebliche Verteidigung schnell zur Begründung von Herrschaft über das Volk und zur Vorbereitung auf Kriegshandlungen gegen nicht-auserwählte Nachbarvölker. Und fast jede Begründung solcher Schrecken kommt daher im Gewande von Mythen und Legenden. Wer aufmerksam die Bibel liest und wohl auch den Koran, findet manche „gottgewollte“ Schlächterei. Es werden recht viele ungebildete Kinder benötigt, um aufzuzeigen, wo auch bei den großen Religionen die neuen Kleider nicht vorhanden sind.

Karl G. Mund

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